Manouchehr Salehi

Kardinalfrage nicht beantwortet

 

 

Es gibt inzwischen eine Reihe selbst ernannter "Islamexperten", die täglich dabei sind, den Moslems beizubringen, wie sie sich nicht nur in der Deutschen Gesellschaft, sondern auch gegen ihre eigene Religion zu benehmen haben. Herr Malcherczyk von der KWGP gehört auch dazu.

 

Er behauptet, den Koran ausführlich gelesen zu haben, in seinen Äußerungen über den Islam kann man aber davon nichts finden. Bevor er sich erlaubt, 3,2 Millionen Moslems in Deutschland zu beleidigen, weil sie angeblich nicht in der Lage sind "selbst zu denken", sollte er das Buch von Hans Küng über den Islam lesen.

 

Wer sich mit den jüdischen, christlichen und islamischen heiligen Büchern auseinander gesetzt hat, müsste feststellen, dass die Lehren dieser Religionen im Widerspruch zu den Werten einer demokratisch organisierten Gesellschaft stehen. Anders könnte es auch nicht sein, weil diese Religionen in Gesellschaften entstanden sind, die sich in einer vordemokratischen Epoche befanden.

 

Das Christentum wurde säkularisiert, weil die bürgerliche Revolution die europäischen Gesellschaften demokratisiert hat. Die Religion musste sich also der Realität anpassen. In den islamischen Ländern sieht die Realität aber anders aus. In einer überwiegenden Mehrheit dieser Länder herrschen  vordemokratische despotische Regierungen, die aber von den demokratisch gewählten westlichen Regierungen unterstützt werden, weil es dem Westen dort weniger um die Menschenrechte und Demokratie, sondern vielmehr um die Inbesitznahme der Bodenschätze und insbesondere um Ölvorräte geht. In diesem Zusammenhang weise ich auf zwei Beispiele hin: Die demokratisch gewählte iranische Regierung wollte die Ölindustrie verstaatlichen. Um das zu verhindern, haben die Geheimdienste von England und USA 1953 gegen diese Regierung geputscht. In Saudi-Arabien existiert eine vordemokratische Regierung, dort wird nach der Scharia regiert, die sunnitischen Islamgelehrten der Strömung Salafiyya interpretieren die Selbstmordattentate islamisch, und von dort kamen die Mehrheit der Attentäter des 11. September 2001. Trotz dieser Tatsachen wird die saudische Herrschaftsfamilie von allen westlichen Regierungen einschließlich Deutschland uneingeschränkt unterstützt.

 

Darüber hinaus gibt es inzwischen mehr als 57 islamische Staaten, jedoch in weniger als 15 Staaten ist die Scharia ganz oder teilweise Bestandteil des Rechtswesens. Auch in Iran, wo die 1. antisäkulare Revolution der Weltgeschichte stattfand, gibt es 2 Rechtsorgane. Neben Scharia-Gerichten gibt es auch moderne Justiz. Diese sollten sich nach der Verfassung ergänzen, was aber häufig nicht funktioniert, weil die Wirkungsbereiche in der Verfassung nicht eindeutig festgelegt worden sind.

 

Wie erläutert, spielt in vielen moslemischen Staaten die Scharia eine Nebenrolle, aber unser "Islamexperte" sieht die Lösung des Problems in der Negierung der Scharia und "Akzeptierung" des Grundgesetztes durch Muslime, die in Deutschland leben. Er geht davon aus, dass die mehr als 3,2 Millionen Muslime in Deutschland außerhalb des Bodens des Grundgesetztes leben und daher nicht integrierbar sind.

 

Mit diesen simplifizierten Lösungen kann man des Integrationsproblems nicht Herr werden. Wer sich mit Stadtsoziologie und Segregation der gesellschaftlichen Schichten und Klassen auseinandergesetzt hat, wird feststellen, dass die Neubürger bei der Migration nicht ihre eigene kulturelle und religiöse Identität aufgeben müssen. Eine Reise in die Agglomerationszentren der USA wird zeigen, dass dort alle Einwanderer aus unterschiedlichen Ländern ihre nationale, kulturelle und religiöse Identität bewahren und sich trotzdem als Amerikaner betrachten. In den USA distanziert sich der Staat nicht von seinen Neubürgern, in Deutschland waren die Neubürger/innen jahrzehntelang "Gastarbeiter", die irgendwann bitte nach Hause gehen sollten. Daher war die Distanzierung des deutschen Staates gegenüber den Muslimen in Deutschland  Normalität. Erst mit der Islamkonferenz der großen Koalition versuchte der Staat seine islamgläubigen Bürger/innen ernst zu nehmen.

 

Die Kardinalfrage wird aber nicht beantwortet: Wenn der Staat seine Neubürger/innen nicht akzeptiert, warum sollten diese ihren neuen Staat bejahen? Darüber sollte man nachdenken, bevor man den Islam oder eine andere Religion für eigenes Versagen verdammt.

 

 

Erschienen am 25. Sep. 2010 in "Elmshorner Nachrichten